Coiffeur

Moskau, den 20. April 2004

«Hallo! Ich bin Oxana!», strahlte mich die junge Coiffeuse an. «Wir zaubern dir gleich eine wunderbare Frisur auf den Kopf!», kündigte sie an und setzte mich auf einen Stuhl. Mir wurde etwas mulmig zumute. Wunderbare Frisuren sind genau das, was mich die letzten vier Jahre in Russland davon abgehalten hat, zu einer russischen Coiffeuse zu gehen: Die immer schön geföhnten Frisuren sehen nämlich immer so aus, als ob die Trägerin gerade eine Stunde im Bad verbracht hätte. Diese Zeit verbringe ich, wenn ich die Wahl habe, lieber mit anderen schönen Dingen. Aber es musste sein, ich war schon seit Monaten nicht mehr in der Schweiz und deshalb nicht mehr beim Coiffeur gewesen. Was ich auf dem Kopf herumtrug, war eine Zumutung für meine Umwelt. «Was wünschen wir uns denn?», fragte Oxana freundlich. Wir! Diese typisch russische Art Fragen zu stellen, finde ich wirklich sehr lustig. Auch wenn man hier ein Flugticket kauft, es heisst immer: «Und wohin reisen wir?» Ich muss mich dann immer zusammennehmen, dass ich die Reisebüro-Angestellte nicht frage: «Ach, Sie kommen mit nach Zürich?» «Was wollen wir heute mit unseren Haaren machen?», fragte Oxana noch einmal. Ich verkniff mir eine blöde Antwort und sagte ihr, was ich wollte. Sie nickte, doch gleich verengten sich ihre Augen und sie begann, an meinen Haaren zu zupfen. «Du hast ja graue Haare!», rief sie völlig entsetzt. «Die müssen wir sofort färben!» Ich lachte nur und sagte, dass graue Haare doch nicht so schlimm seien. «Bei uns in Russland schon», antwortete Oxana. «Oder hast Du etwa schon mal eine Russin mit grauen Haaren gesehen?», fragte sie und gab die Antwort gleich selbst. «Keine Frau, die etwas auf sich hält, rennt mit grauen Haaren rum. Nie!». Ich liess vor meinem geistigen Auge meine älteren Bekannten revue passieren. Tatsächlich: Keine einzige hat graue Haare. Ich schaute in den Spiegel. Dass ich graue Haare habe, weiss ich auch, aber erstens sind es gar nicht so viele zweitens habe ich die schon ewig. «Färben wir die Haare?», fragte Oxana und kramte einen Farbbogen hervor. «Das nächste Mal!», vertröstete ich sie. Erst wollte ich sicher sein, dass sie mir eine anständige Frisur verpasst. Oxana zuckte mit den Schultern und bat mich, meine Brille abzuziehen, damit sie besser schneiden könne. Kurzsichtig wie ich bin, kann ich so nicht einmal ein Heftli anschauen und hing einfach meinen Gedanken nach. Oxana schnitt, aber es fühlte sich anders an als sonst. Ich griff nach der Brille und sah, wie sie einzeln weisse Haare hervorpopelte und gerade über der Kopfhaut abschnitt. Mir drohte das Herz still zu stehen. Meine grauen Haare sind etwa so störrisch wie Kuh-Zaun-Draht und stehen kerzengerade ab, wenn sie nicht mindestens zehn Zentimeter lang sind. «Hör sofort auf!», sagte ich zu Oxana. Wenn die nachwachsen, sehe ich aus wie ein Igel! Das sieht dann erst recht richtig scheisse aus!». Oxana sah mich verwundert an. «Das ist doch kein Problem, die kann ich prima nachschneiden. Du kommst doch von jetzt an sicher einmal die Woche zum Frisieren!»