Entsorgen

Moskau, den 20. March 2002

Letzthin traf ich einen russischen Freund, der gerade ein Jahr in Deutschland gelebt hat. «Jetzt verstehe ich besser, warum ihr so seid, wie ihr seid», sagte er. «Und ich verstehe jetzt besser, worüber ihr euch hier wundert», meinte er. Seit Sascha aus Deutschland zurück ist, habe ich noch etwas mehr, worüber ich mich wundern kann: Er hat mir erzählt, dass er nun seinen Müll trennt. Dabei gibt es doch in Moskau gar keine Mülltrennung, es wird vor dem Haus eh alles in die selbe Tonne geschmissen. «Ja», sagte er, «draussen schmeiss ich alles in den gleichen Container. Albern, nicht? Aber ich kann nicht mehr anders!» Ich schon. Zweieinhalb Jahre Russland haben mich total versaut. Gebrauchte Walkman-Batterien? Wandern ohne dass ich mit der Wimper zucke in den Müll. So wie auch die Bananenschalen, die Weinflaschen, die vielen Zeitungen, die Kartonkisten oder die Metallbüchsen. Interessanterweise gibt es aber doch etwas, was mir bis heute sehr unangenehm ist: Ich werde nervös, wenn Wasser ungebraucht literweise den Abfluss hinunterrauscht. Das kommt wahrscheinlich noch aus meiner Zeit, als ich noch Primarlehrerin war und mit meinen damaligen Schülern einen pädagogisch wertvollen Versuch machte: Sie mussten mit der Stoppuhr in der Hand messen, wie lange sie Zähne putzen und dann noch schauen, wie viel Wasser pro Minute aus dem ganz offenen Hahnen fliesst. Mit einem einfachen Zweisatz konnte sie dann ausrechnen, wie viel Wasser sie verschwenden, wenn sie beim Zähneputzen den Wasserhahnen nicht zudrehen. Lucia, unsere Putzfrau, braucht acht Liter pro Minute zum Abwaschen. Dass Wasser etwas ist, das grundsätzlich nicht in rauen Mengen vorhanden ist, ist den Russen noch nicht bewusst geworden. Und weil für das Heisswasser eine feste Gebühr bezahlt werden muss, die unabhängig ist von der gebrauchten Wassermenge, tut die Verschwendung nicht einmal dem Portemonnaie weh. Ich habe schon einige Male etwas gesagt, aber es nützt nichts. «Sonst wird es nicht sauber», entgegnet Lucia «du hast mich angestellt, damit ich hier putze, also mache ich das so, wie ich das für richtig finde!». Jedes Mal, wenn ich Lucia zuschaue, muss ich zudem an meinen zweimonatigen Aufenthalt in Irkutsk denken. Damals war es unter minus vierzig Grad, alles drohte einzufrieren, vor allem auch die Wasserleitungen. Deshalb hatte Nadjeschda, meine Schlummermutter, strikt verboten, den Heisswasser-Hahnen der Badewanne ganz abzudrehen. Es musste immer ein wenig Wasser fliessen, denn die Heisswasser-Röhre verlief in der Aussenwand des Hauses und war deshalb akut gefährdet. Wasser fast gratis, die neuen Röhren hätte Nadjeschda bezahlen müssen. Zwei Monate mal 30 Tage macht 60 Tage, das mal 24 Stunden macht 1440 Stunden, das wiederum mal 60 Minuten macht 86400 Minuten mal – sagen wir 1 Liter pro Minute, weil der Hahn nicht ganz offen war: Macht 86 400 Liter Heisswasser, die ungebraucht in die Kanalisation geflossen sind. Da waren noch ganz viele solche Nachbarn, die das auch so machen, noch mehr solche Häuser und kalt ist es in Irkutsk und den vielen anderen Städten mehr als nur zwei Monate im Jahr…