Kälte

Moskau, den 20. December 2000

Ich hätte es wissen müssen. In einem halben Jahr in Russland habe ich eigentlich gelernt, dass ich mich nie zu früh freuen darf. Aber ich hab es wieder einmal vergessen. Gestern, als ich aus dem Haus kam, stand ein fluchender Autofahrer am Strassenrand. Er stocherte mit einer kleinen grünen Schaufel, mit der seine kleine Tochter im Sommer wahrscheinlich den Datschagarten umgräbt, in einem Schneehaufen herum. In mir kam leise Schadenfreude auf. Schliesslich kann der sich nachher ins Auto setzen und friert dann nicht. Soll er ruhig ein bisschen graben! Meine Schadenfreude war von kurzer Dauer. Seit heute brauche ich für jeden Weg drei Mal so lange. Denn gestern schien den ganzen Tag die Sonne, der Schnee schmolz auf den Dächern und seither wachsen an den Dachrinnen wunderbare, gigantische Eiszapfen. Schön, aber gefährlich. In der ganzen Stadt sind die Trottoirs abgesperrt: Die Schneemassen drohen von den Dächern herunterzurutschen und die Eiszapfen abzubrechen. Das ist bestimmt kein schöner Tod, von so einem herunterfallenden Ding aufgespiesst zu werden… Ist das Trottoir gesperrt, bleibt mir nichts anderes übrig, als auf die Strasse zu wechseln. Das ist nicht ganz einfach, erst muss ich über einen dreckig-braunen matschigen Schneewall klettern, wo ich mir regelmässig meinen schwarzen Daunenmantel total versaue. Endlich auf der Strasse, drohen mich nun Autos ins Jenseits zu befördern. Was ein richtiger russischer Autofahrer ist, bremst schon im Sommer nicht wegen Fussgängern. Aus Prinzip. Und im Winter erst recht nicht, weil er dann ja ins Schleudern geraten könnte und dann eine Beule im Auto hätte. Dennoch gehe ich zu Fuss, es bleibt mir nichts anderes übrig. Ein Auto hab ich keins und Metrofahren ist zur Zeit reiner Selbstmord. Während die Temperaturen draussen gegen minus 20 Grad sinken, ist es in der Metro stickig heiss. Spätestens nach drei Minuten bin ich patschnass geschwitzt und glaube, bald ohnmächtig zu werden. Es hilft nicht einmal, den Mantel und den Faserpelz auszuziehen. Die Metro ist wegen des Chaos auf den Strassen so voll, dass mich die Mäntel der Nachbarinnen und Nachbarn alle mitwärmen. Riesige Füchse, Schafe, Hasen, Nerze drängeln, schieben und quetschen sich in die Wagen. Pelzgegner hätten hier alle Hände voll zu tun. Ich bin mit meinem Daunenmantel die Ausnahme. Manchmal, wenn es wirklich beissend kalt ist, helfen mir meine Enten und Gänse auch nicht weiter und ich fange an, die Pelzträgerinnen um ihre warme, weiche und kuschelige Hülle zu beneiden. Bis jetzt sind meine Skrupel noch zu gross und ich habe der Versuchung widerstanden, mir so ein Teil zuzulegen. Diskussionen mit Russen zu diesem Thema sind übrigens absolut zwecklos. Wie Alla, meine Russisch-Lehrerin sagt: «Bei uns gibt es kein Greenpeace, bei uns ist es kalt.»