Lusja

Moskau, den 30. April 2002

«Hast du eigentlich noch deine eigenen Zähne?», fragte mich Lucia, meine Putzfrau letzthin. Ich schaute ein bisschen irritiert. «Wieso?», fragte ich zurück. «Nur so, weisst du, bei mir ist fast nichts mehr echt», sagte sie, lachte, verschwand und kam mit ihrer Handtasche zurück. Sie kramte lange darin, und zog ein Foto heraus. «Schau!», sagt sie. Ich hatte ein Bild von ihr aus jungen Jahren erwartet. Was ich sah, drehte mir fast den Magen um: Ein Gesicht, das ich nicht erkennen konnte, weil es geschwollen und mit blauen und grünen Flecken übersät war. «Das bin ich!», sagte Lucia stolz, «nach meiner letzten Lifting-Operation!» Lucia ist Urgrossmutter. Wie alt sie genau ist, ist ihr Geheimnis. Über Alter reden russische Frauen nicht. Aussehen tut Lucia wie fünfzig. Viel älter kann sie eigentlich gar nicht sein, denn sie erzählt, wie sie, ihre Tochter und nun eben erst ihre Enkelin, «ganz, ganz früh» Kinder bekommen haben. Vor ein paar Wochen kam Lucia hochzufrieden zu mir. «Jetzt sind wir den auch los», sagt sie schob energisch die Ärmel ihres Pullovers zurück und machte eine unanständige Geste. Ich verstand nicht. «Den Kindsvater!», sagte sie. Die Enkelin hätte ihn, den Taugenichts, endlich aus der Wohnung geschmissen. Sei höchste Zeit gewesen. «Lange hat das nicht gehalten», wandte ich ein. «Wundert es dich?», sagte Lucia und mir kam ein Gespräch mit ihr in den Sinn, das wir vor ein paar Monaten geführt haben. Damals erzählte sie mir, dass sie ihre Tochter ohne Mann grossgezogen habe, ihre Tochter ihre Tochter wiederum auch. Nur ihre Enkelin, die grad ein Kind – «gottseidank ein Mädchen» – auf die Welt gebracht habe, lebe mit ihrem Mann zusammen. Das klang so, als ob es ein Problem sein. Ich fragte nach. «Ach weisst du, irgendwann fangen sie an zu saufen», sagte sie. «Besser, man macht von Anfang an einen grossen Bogen um sie». Dieser Meinung ist auch Alla, meine Russisch-Lehrerin. Seit einigen Jahren hochzufrieden von einem Alkoholiker geschieden. Auch Alla hatte den Horror, einen Jungen zu bekommen. «Als ich mit meiner Tochter Olga schwanger war, hab ich jeden Tag zu Gott gebetet, dass es ein Mädchen gibt, obwohl ich eigentlich gar nicht an Gott glaube. Aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte». Und trotzdem heiraten die Russinnen und Russen alle total früh, um dann auch jung wieder geschieden zu sein. Nicht heiraten geht nicht. Wer mit fünfundzwanzig noch ledig ist, der ist nicht normal oder hat riesen Pech: «Ach, dich wollte also keiner?». Wenn ich erzähle, dass ich 32 bin und nicht verheiratet bin, schliessen alle messerscharf, «ach so, du bist geschieden!». Kürzlich diskutierte ich mit den beiden Verkäuferinnen der Gemüse- und Getränke-Abteilung im Sowjetstil-Supermarkt (beide geschieden), über das Thema. Sie hatten mich gefragt, ob der Typ, mit dem ich letzthin einkaufen gekommen bin, mein Mann sei. «Mein Freund», sagte ich. «Oh», sagte die eine. «Lebt ihr zusammen?» Ich sagte ja. «Und eure Eltern wissen das und sind damit einverstanden?»