Muttergefühle

Moskau, den 25. June 2004

«Auf Sie habe ich gewartet, Fräulein!», sagte die dicke Zugbegleiterin und stellte sich mir in den Weg. Ihre Stimme bebte vor Wut. «Wo ist der Boyfriend geblieben?» Die ältere Frau steckte in einer viel zu engen dunkelblauen Uniform. Was wollte sie von mir? Ich war alleine unterwegs und war in den Speisewagen gekommen, weil ich mir noch ein paar belegte Brötchen und ein Bier kaufen wollte. Wir waren eben in der ukrainischen Hauptstadt Kiew abgefahren, bis zum Ziel, der Stadt Lwiw in der Westukraine, waren es noch knapp 15 Stunden. Neben der Schaffnerin standen die Köchin und die Kellnerin des Speisewagens. Beide in weissen Schürzen. Noch waren keine Gäste da, aber aus der Küche roch es schon lecker, durch die offene Tür konnte man zerbeulte Pfannen sehen, die auf einem Kohleherd standen. Die gestärkten Servietten lagen auf Tellern mit Goldrand. Daneben standen Wodka-Gläser. Die Rüschen-Vorhänge wippten langsam im Rhythmus des Zuges. «Sieht er denn gut aus, mein Boyfriend?», versuchte ich es mit einem Scherzchen und fügte dazu: «Sie müssen mich wohl verwechselt haben.» Sie schaute mich lange an und sagte, die Wut in ihrer Stimme knapp unter Kontrolle: «Sieht so aus! Ist wohl noch eine Ausländerin im Zug!» Und sie begann vom Pärchen aus dem Westen zu erzählen, das ihr zehn Dollar versprochen hat, wenn sie ihnen ein anderes Abteil organisiert. Im Vierer-Abteil, für das die beiden Tickets gekauft hatten, sassen zwei Russen, die unbedingt ein Saufgelage veranstalten wollten. Das wollten die Ausländer nicht. Es war allerdings kein Problem, das Abteil zu wechseln, der Zug war fast leer. Die Schaffnerin sagte den beiden, sie sollen sich doch einfach ein Abteil aussuchen. «Das haben sie dann gemacht, aber sie haben auch den Wagon gewechselt», erzählt sie mit finsterer Miene. «Sie sind in den zwölften gegangen, ich bin aber nur für den elften zuständig. Das Geld hat ihnen dann mein Kollege abgeknöpft.» Zehn Dollar sind für Leute mit solchen Jobs viel Geld, die Köchin erzählte mir später, sie verdiene im Monat umgerechnet siebzig Dollar. Ob ich ihr das Geld geben könne, fragte ich. Die Schaffnerin schüttelte energisch den Kopf, nein, das wollte sie nicht. Da schaltete sich die Kellnerin ein. «Alle hinsetzen!», befahl sie. Ich wollte eigentlich zurück in mein Abteil, dort lagen meine Kameratasche und mein Gepäck. Doch ich hatte bei den drei älteren Damen offensichtlich Muttergefühle geweckt, musste erst Tee trinken und erzählen, was ich denn so ganz alleine in diesem Zug machen würde und wie es denn sein könne, dass mein Boyfriend mich einfach so ziehen lassen würde. Nach einer halben Stunde hatte ich dann doch meine Butterbrote in der Hand und die Bierflasche unter dem Arm. Ich wollte bezahlen: «Auf gar keinen Fall», wehrte die Schaffnerin ab. «Du bist mein Gast!» Ich schüttelte den Kopf. «Das geht doch nicht! Eben erst sind Sie um ihre zehn Dollar gebracht worden. Und jetzt wollen Sie mich auch noch einladen…», sagte ich. Sie sah mich grinsend an. «Doch das geht!», sagte sie: «Du willst doch nicht, dass ich noch wütender werde!»