Reisen

Moskau, den 16. December 2003

Russland ist voller Rätsel. Kürzlich stand ich wieder einmal vor einem: Es war fünf Uhr morgens. Ich war eben in Perm gelandet, einer Stadt zwei Flugstunden östlich von Moskau. Am Boden lag meine graue Reisetasche, die ich eben vom Gepäckband gehoben hatte. Dabei war etwas auf den Boden gefallen und hatte metallisch gescheppert. Ich sah erst nichts, die altersschwache Glühbirne vermochte den Blechverschlag knapp zu erleuchten und ich war noch nicht richtig bei Sinnen, obschon wir die fünfhundert Meter vom Flugzeug zur Gepäckübergabe durch einen eisigen Schneesturm gestapft waren. Plötzlich sah ich am Boden kleine Metallstücke herumliegen. Ein kleines Zahnrad, noch so eins und etwas weiter weg ein Haken. «Mein Schloss!», fuhr es mir durch den Kopf. Ich hatte je ein solches grosses metallisches Zahlen-Schloss an jedem der beiden Reissverschlüssen angebracht. Ich schaute nach dem zweiten Schloss, es hing noch da, aber als ich es anfasste, fiel es auch auseinander. «Wir haben damit nichts zu tun!», sagte die junge Flughafenangestellte, die mich beobachtet hatte, sofort. «Ihre Schlösser müssen in Moskau kaputtgegangen sein!» Ich fragte sie, wie denn zwei so massive Schlösser einfach so «kaputt gehen» können? Sie wurde richtig grob: «Das nächste Mal müssen Sie halt keine Scheissschlösser kaufen, die vom Anschauen alleine schon auseinander fallen!» In meinem Kopf setzte ich bereits einen Brief auf: «Lieber Herr Samsonite! Ihr super teures Scheisschloss fällt schon beim Anschauen auseinander…» Ich beschloss, mich nicht aufzuregen. Denn ich wusste, dass mir nichts geklaut worden war. Ich brauche die Schlösser schon lange nicht mehr, sie hängen nur noch an einem Teil des Reisverschlusses, als Dekoration sozusagen. Auf Inlandsflügen schütze ich mein Gepäck vor neugierigen Flughafenmitarbeitern wie alle andern auch mit Folie, so ähnlich, wie die, mit der bei uns Broccoli oder Chinakohl eingewickelt wird. Für 80 Rubel, rund vier Franken, wickeln Angestellte eines Gepäckeinpackdienstes am Flughafen so viel Folie darum herum, dass man nachher ein Sackmesser und fünf Minuten Zeit braucht, um alles wieder wegzupopeln. Folie ist viel besser als Schlösser. Denn die neugierigen Flughafenangestellten schaffen es sowieso, jedes Schloss aufzumachen. Im Gegesatz zu Freunden, denen Bestechungsgeschenke wie Whisky-Flaschen und Parfums, aber auch Klamotten abhanden gekommen sind, habe ich bisher allerdings noch keine Verluste zu verzeichnen gehabt. Der Verlust meiner Schlösser war nicht weiter tragisch, aber ich konnte einfach keine Antwort auf meine Frage finden: Warum haben die meine Schlösser aus der Plastikumhüllung herausgeklaubt und kaputt gemacht? An den Teilen war genau zu sehen, dass jede Menge Gewalt angewendet worden war. Der Taxi-Fahrer, der mich in die Stadt fuhr, schüttelte den Kopf: «Das ist doch wirklich einfach! Entweder waren das die Arbeiter in der Gepäckabfertigung, die sich an dir rächen, weil sie wegen des Plastiks dein Gepäck nicht mehr so einfach aufmachen können. Oder es war die Plastikfolien-Mafia selbst. Damit du nie vergisst, deine Sachen einwickeln zu lassen!»