Russen

Moskau, den 16. October 2003

Kürzlich habe ich eine neue Kollegin kennen gelernt, sie war nach Moskau gekommen, um eine Wohnung zu suchen, ab Neujahr soll sie für einen deutschen Fernsehsender als Korrespondentin aus Moskau berichten. «Du bist ja schon ewig hier», sagte sie. «Wie kommst du denn mit den Russen klar?» Was für eine Frage! Im Grossen und Ganzen ganz gut, sagte ich. Sollte ich ihr jetzt erzählen, dass ich noch nach drei Jahren immer nicht verstehe, wie die ticken? Dass sie, je mehr ich über sie weiss, noch mehr zu einem Rätsel werden? Selbst Leute, die ich gut kenne, mit denen ich stundenlang über alles mögliche diskutieren kann, bringen mich immer wieder an den Punkt, an dem ich sage: Ich werde dieses Land und seine Leute NIE verstehen. Ein Beispiel? Heute morgen habe ich eine E-mail von einer russischen Freundin aus St.Petersburg bekommen. Sie hatte mir vor einiger Zeit erzählt, dass sie einen Studienplatz in Finnland bekommen hat und sie beim finnischen Konsulat ihre Papiere eingereicht hatte, um eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. «Ich habe heute meine Bewilligung bekommen. Es war total leicht! Normalerweise sind da vor dem Konsulat lange Schlangen. Heute war da niemand, kein einziger Mensch (ich bin extra einmal rundherum gelaufen, habe gesucht, niemand!). Ich war so überrascht, dass ich sogar den Wachmann fragte, was denn los sei und warum die übliche Invasion von Russen ausbleibe und ob es vielleicht heute gar gefährlich sei, das Konsulat zu betreten? Der Milizionär lachte und ich beschloss, doch reinzugehen. Nichts ist passiert, es dauerte genau eine Minute und ich hatte meine Aufenthaltsbewilligung. Endlich! Ich hatte gewonnen!», schrieb sie. So weit so gut. Was dann kam, liess mich wieder einmal zweifeln: «Doch etwas war komisch: Ich fühlte mich in dem Moment überhaupt nicht glücklich. Ich hatte das Gefühl, dass etwas fehlt. Kennst Du das? Mir fehlte das Adrenalin im Blut, dieses tolle Gefühl nach einem gewonnen Kampf. Wo waren sie, alle diese riesigen und schrecklichen Hürden, um zu einer Aufenthaltsbewilligung zu kommen? Wo waren sie, die misstrauischen Finnen, denen die Frage «was hat diese junge Russin bei uns verloren?» ins Gesicht geschrieben steht? Wo waren die Tonnen von Formularen zum Ausfüllen? Und wo waren die Stunden, die man von einem Gedanken besessen in Schlangen verbringt: Komme ich heute noch rein, oder muss ich morgen noch einmal kommen? Ich bin masslos enttäuscht von den Finnen, die machen es einem viel zu einfach und verderben einem den ganzen Spass! Meine letzte Hoffnung ist nun, dass ich wenigstens bei der Einreise an der Grenze noch ein bisschen kämpfen kann! Weisst Du, was ich meine?» Nicht wirklich! Ich streite ungerne mit arroganten Zöllnern, ich kriege auch die Krise, wenn ich in der Schlange stehen muss. Ich hasse es, zehntausend Zettel auszufüllen zu müssen und es macht mich total aggressiv, schlecht behandelt zu werden. Ich bekomme da keine Adrenalinschübe, allerhöchstens Magengeschwüre. Meine zukünftige Kollegin jedenfalls meinte, dass man von den Russen und ihrer reichen Kultur sicher einiges dazulernen könne. Da konnte ich ihr ohne Einschränkungen zustimmen.