Schicksal

Moskau, den 16. September 2003

Schicksal ist Schicksal: Die Ergebenheit, mit der die Russen ihr Schicksal tragen, ist unermesslich gross. Sich zu wehren oder etwas dagegen zu tun, kommt den Menschen hier meistens gar nicht in den Sinn. Stattdessen sitzen sie, wenn über Probleme gesprochen wird, seufzend da und starren vor sich hin, wie die drei Alkis bei uns vor dem Haus. Meistens sitzen die drei stumm nebeneinander auf dem Mäuerchen, selten reden sie miteinander. Wenn, dann geht es immer um Probleme und immer endet die Diskussion gleich: Wenn keiner mehr weiter weiss, schweigen sie alle erst einmal, bis einer «schto djelat?» sagt, was etwa so viel heisst wie «was tun?». Dann wird wieder ein bisschen geschwiegen, bis ein zweiter wissen will «kto winowat?», wer ist schuld? Wenn der dritte dann nach einer Weile «komu na Rusi zhit choroscho?» – und wer lebt in Russland gut? – grummelt, dann fangen sie alle drei an zu lachen und finden, es sei wieder einmal Zeit für einen kräftigen Schluck Wodka. Solche Szenen habe ich einige erlebt. Anfangs dachte dachte ich, die sind alle wahnsinnig. Ich weiss noch, wie ich in Sibirien am Tisch einer Familie sass, wo der Onkel eben erst einen schweren Unfall gehabt hatte, die Tante, weil sie den Job verloren hatte, kein Geld für das Krankenhaus besass und an dem Abend auch noch der Kochherd den Geist aufgegeben hatte, so dass es nur kaltes Essen gab. Da fing nach langen Diskussionen zum Thema wie schrecklich alles sei auch einer an zu fragen «schto djelat?». Nicht lange, die zweite und dritte Frage war auch gestellt, lachten sie alle. Ich sass höchst irritiert daneben, bis mir einer erklärte, dass es sich bei den drei Fragen um Buchtitel handle, die immer in dieser Reihenfolge zitiert würden. Diese Bücher, alle drei Klassiker, habe kaum einer gelesen, aber die Titel kenne jeder. «Mach dir keinen Kopf, Westler können das nicht verstehen», sagte er beruhigend. «Uns hier bleibt eben nichts anderes übrig, als über unser Schicksal zu lachen! Ganz egal wie beschissen es ist!», sagte er und lachte weiter. Es gibt allerdings ein paar Bereiche, da ist nichts mit «schto djelat», da wird auch nicht gelacht, sondern die Ärmel hochgekrempelt. In drei Tagen zum Beispiel ist Stadtfest. Und am Stadtfest ist garantiert immer schönes Wetter. Wie das geht? Ganz einfach: Es wird schönes Wetter gemacht. In den Nachrichten wurde dies gestern bereits angekündigt: «Damit am Wochenende, wenn Moskau seinen 856. Geburtstag feiert, schönes Wetter ist, stehen ab dem frühen Samstagmorgen zehn Flugzeuge bereit. Mit Hilfe der Flugzeuge können heranziehende Wolken schon weit vor Moskau mit Chemikalien besprüht werden. Diese Chemikalien bewirken, dass die Wolken vor der Stadt abregnen.» Das funktioniert wirklich ganz prima! Mit dieser Technik wurde schon zu Sowjetzeiten dafür gesorgt, dass die Militärparaden auf dem Roten Platz im schönsten Sonnenschein abgehalten werden konnten. Den Leuten in den kleinen Käffern im Westen der Stadt regnet es an diesen Tagen natürlich auf den Kopf. Die sitzen dann wahrscheinlich in der Stube, zucken die Schultern und fragen sich: «Schto djelat?»