Schwarzfahren

Moskau, den 20. March 2001

Heute morgen bin ich beim Schwarzfahren im Bus erwischt worden. Das heisst, eigentlich bin ich gar nicht schwarz gefahren. Ich hatte ein Billett, genauer gesagt, eine ganze Manteltasche voll. Jedes Mal wenn ich in den Bus steige, stanze ich ein kleines Stück Papier, das ich vorher am Kiosk für drei Rubel, umgerechnet 18 Rappen, gekauft habe im Apparat, und stecke es in die Tasche. So haben sich im Verlauf der Zeit ganz viele Tickets mit den verschiedensten lustigen gestanzten Mustern angesammelt. Natürlich wusste ich nicht, welches Ticket das richtige ist, als der Kontrolleur mir seinen Ausweis unter die Nase hielt. Ich versuchte es deshalb mit einer gezielten Charme-Offensive: «Sie dürfen wählen!» und streckte ihm eine handvoll zerknüllter Papierchen entgegen. Der Kontrolleur zeigte nur wortlos auf den an die Wand gepinselten Schriftzug. «Schtraf», wie Strafe auf russisch heisst, stand dort. Und «10 Rubel», etwa 60 Rappen. Anders als in Zürich, wo die Kontrolleure «so, so! S’Frölein hät keis Bileet!» sagen, versuchte er nicht einmal, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Auch den andern vielen Schwarzfahrern nicht, die ohne die Miene zu verziehen im Bus sassen und gelangweilt ihre Zehn-Rubel-Note bereithielten, als ob sie statt der Strafe nur ein Ticket bezahlen würden. Das brachte mich auf eine Idee: Drei Rubel kostet ein Billett, ich fahre jeden Tag mindestens vier Mal Bus. Alle Schaltjahre einmal werde ich kontrolliert und muss dann zehn Rubel bezahlen. Man rechne: Schwarzfahren lohnt sich! Eigentlich bin ich doch doof, wenn ich mir immer den Stress mache, oft vergeblich die Kioske nach Tickets abklappere, wenn ich billiger schwarz fahre. Ausserdem bekomm ich für die drei Rubel ja auch eine Gegenleistung und kann Bus fahren. Und wie soll dieses Land aus dem Schlamassel rauskommen, wenn alle erst an sich selbst denken? «Zehn Rubel ist doch viel zu wenig!» hatte ich dem Kontrolleur deshalb gesagt. «Sie müssen mehr verlangen, sonst fahren die Leute immer schwarz!» Er schaute mich nur verständnislos an und dachte sich sicher, «die blöde Ausländerin». So wie die resolute Museumswärterin im Kunstmuseum letzthin auch. In allen staatlichen Museen müssen Ausländer höhere Eintrittspreise bezahlen. Als in Russland wohnhafte Ausländerin habe ich im Prinzip Anrecht darauf, den normalen Preis für Russen zu bezahlen. Im Prinzip, denn die älteren Aufpasserinnen in den Museen kümmert das wenig. Ausländer ist Ausländer – basta. Die Kassiererin weigerte sich standhaft, mir ein billiges Ticket zu verkaufen. Ich packte mein Jahresvisum aus, kramte meine Akkreditierung als Journalistin hervor, nichts half. Zum Schluss tischte ich ihr mein aus meiner eingeschränkten Schweizer Sicht stärkstes Argument auf und bewies damit, dass ich von Russland noch immer nichts verstanden habe: «Sie werden doch vom Staat finanziert. Ich habe ein Anrecht auf den tieferen Preis, schliesslich zahle ich hier Steuern. Und nicht wenig!», sagte ich triumphierend. Die Frau sah mich nur voller Mitleid an und sagte: «selber Schuld!»