Servicewüste

Moskau, den 12. September 2002

Es ist nicht lange her, da rügte mich ein Schweizer Kollege hier in Moskau. «Alex», sagte er. «Deine Kolumnen über das Leben in Russland sind lustig. Aber findest du nicht, dass du damit ein Bild von Russland zementierst, das nicht mehr stimmt? Ich vermisse in deinen Kolumnen die Tatsache, dass sich dieses Land extrem schnell entwickelt.» Er hat natürlich recht. Ich schreibe hier an dieser Stelle über Dinge, die mir auffallen, weil sie anders sind als bei uns. Über Dinge, die für mich komisch, lustig, absurd sind. Dabei hat sich Moskau in den zwei Jahren, seit ich hier bin, massiv verändert. Moskau wird immer mehr zu einer Metropole im westlichen Sinn. Ein Beispiel: Vor genau einem Jahr sass ich mit einer amerikanischen Freundin in einem netten kleinen Restaurant im Moskauer Konservatorium. Wie so oft war die Bedienung lausig. Der Kellner knallte uns die Teller auf den Tisch, die Hälfte vom Salat meiner Kollegin rutschte auf den Tisch. Der Kellner nahm ihr Besteck, schaufelte den Salat wortlos zurück auf den Teller und brachte ihn in die Küche. Zehn Minuten später bekam sie den Salat wieder vorgesetzt. Ohne ein Wort der Entschuldigung. «Die werden nie kapieren, was Dienstleistung ist und dass man Kunden pfleglich behandeln soll», regte sich meine Kollegin auf. Ich fand die Situation total komisch. War ja auch nicht mein Salat. «Pass bloss auf», sagte ich. «In ein paar Jahren haben auch die Russen die westliche Service-Mentalität übernommen. Dann haben wir nachher keine lustigen Geschichten mehr zu erzählen!» Kurz darauf wurde das Restaurant geschlossen. Lange Zeit waren die Fenster mit Zeitungspapier verklebt, es schien sich nichts zu tun. Vor ein paar Monaten rückte eine Renovationskolonne an. Das alte Mobiliar wurde rausgerissen. Alles hell gestrichen und daraus ein schickes Café gemacht. Das Personal ist freundlich, der Service effizient, die Musik aus dem Lautsprecher das neuste. Noch vor zwei Jahren suchte man in Moskau vergeblich nach so einem Café, wo man sich zwischendurch mal reinsetzen und verschnaufen konnte oder sich mit Freundinnen treffen konnte. Heute gibt es in der Innenstadt dutzende von diesen Cafés, wie sie auch in Zürich, London, New York zu finden sind. Das kommt nicht nur mir entgegen. In einem Land wie Russland, in dem die Arbeitslosigkeit so hoch ist, ist es auch gut, dass dadurch mehr Leute zu einem Job kommen. Und trotzdem vermisse ich das alte Restaurant. Hin und wieder, wenn ich im Café sitze, erinnere ich mich an den alten weisshaarigen Pianisten, der jeden Abend die selben Melodien klimperte, bis um halb elf der Kellner kam und uns zum Gehen aufforderte. Das Restaurant war laut Schild an der Tür bis elf Uhr geöffnet. «Sie haben doch bis elf geöffnet», sagte ich beim ersten Mal. «Nein», sagte der Kellner. «Um elf gehen wir nach Hause», sagte er. Das ist beim neuen Café nicht mehr so. Dafür gibt es auch keine Geschichten mehr zu erzählen.