Sibirien

Moskau, den 20. January 2000

Seit zwei Wochen bin ich in Irkutsk, der Hauptstadt Ostsibiriens. Über Weihnachten hatten wir Besuch, Neujahr haben wir auf dem Roten Platz gefeiert und ich war so beschäftigt, dass ich keine einzige Zeitung gelesen habe. Als wir uns im Sinkflug auf Irkutsk befanden, kam die Durchsage «meine Damen und Herren, in zehn Minuten landen wir in Irkutsk. Die Temperatur beträgt minus 44 Grad.» Ich dachte, ich hätte mich verhört. Es war vier Uhr morgens, ich war müde und der Lautsprecher knatterte. Zahlen waren noch nie wirklich meine Stärke, und ich vertue mich im Russisch immer wieder. Nur, die Zahl 44 auf Russisch kann eigentlich mit keiner anderen verwechselt werden… Ich fragte meinen Nachbarn. «Ja haben Sie denn nicht mitbekommen, dass es in Sibirien so kalt ist wie schon seit fünfzig Jahren nicht mehr?», fragte er erstaunt. Hatte ich nicht… Es ist kalt. Erst merkt man die Kälte gar nicht. Sie ist so trocken, dass es ein paar Sekunden dauert, bis man etwas spürt. Nach einigen Sekunden friert aber die Nasenschleimhaut ein. Das fühlt sich an, als wenn man sich Sekundenkleber in die Nase geschmiert hätte. Ein ganz komisches Gefühl! Gestern habe ich einer Babuschka selbst genähte Handschuhe aus einem alten Pelzmantel abgekauft. Meine superteuren Skihandschuhe aus der Schweiz konnten bei diesen Temperaturen nicht mehr mithalten. Aber auch mit diesen Handschuhen und einem dicken Wollschal aus Ziegen-Unterwolle, den ich einer Frau aus Dagestan abgekauft habe, halte ich es draussen nicht länger als eine Viertelstunde aus. Die Scheiben der Häuser sind innen zentimeterdick vereist, die Scheiben der Autobusse zugefroren… Meine sibirische Gastmutter heisst Nadjeschda, eine kleine rundliche herzliche Frau, die sich leider zum Ziel gesetzt hat, mich aufzupäppeln. «Das Kind ist zu dünn!», sagt sie mindestens fünf Mal am Tag. Am ersten Morgen gab es deshalb auch gleich einen riesen Teller Kartoffelstock mit Geschnetzeltem und viel Zwiebeln. Mir wurde allein beim Anblick richtig schlecht. Nur, wie sagt man auf Russisch, dass eine Tasse Tee und ein Stück Brot reichen? Mittlerweile kann ich das sagen, aber ich musste trotzdem einsehen, dass ich Nadjeschda nicht davon abbringen kann, jeden Morgen um sieben an den Herd zu stehen und mir ein Frühstück zu kochen. Mit einer Schürze über ihrem Nachthemd und einer Mütze auf dem Kopf, steht sie so lange neben mir, bis ich aufgegessen habe. «Draussen ist es kalt, iss!» Widerstand ist zwecklos, ich hab es versucht und habe kapituliert. So wie früher die Regierung für das Volk, denkt sich heute Nadjeschda für mich aus, was gut ist, ob mir das passt oder nicht, ist ihr herzlich egal. So sitze ich also jeden Morgen vor meinem Teller und muss mich unglaublich überwinden. Erstens kann ich am morgen früh nicht so viel essen, zweitens wird mir beim Anblick von Fleisch um halb acht Uhr morgens übel und ausserdem heisst es doch: Wer zahlt, befiehlt, nicht? Heute im Russischunterricht haben wir eine Statistik angeschaut. 57 Prozent der befragten Russen gaben an, dass sie sofort für immer auswandern würden, wenn sie nur könnten. Für Irina, meine Lehrerin, ist das absolut unverständlich. Irkutsk, das fünftausend Kilometer östlich von Moskau liegt, ist ihr Nabel der Welt. «Sogar Wolodija, unser Schulleiter träumt davon, nach Neuseeland auszuwandern», sagte sie schaudernd. «Stell Dir vor! Nach Neuseeland! Das liegt doch wirklich am Arsch der Welt!»