Aberglaube

Moskau, den 20. October 2001

«Schauen Sie nicht so besorgt!», sagte die nette Dame tröstend und lächelte freundlich. «Es ist nichts passiert! Ich habe blaue Augen!» Was meinte diese Frau? Ich hatte gar nicht besorgt geschaut, höchstens ein bisschen irritiert. Denn die Fotos, die ich in Sibirien geknippst hatte, und die ich ihr an der Vernissage zeigte, riefen in ihr offenbar Erinnerungen wach und sie redete wie ein Wasserfall auf Russisch auf mich ein. Ich verstand kaum etwas, nickte aber höflich, sagte ab und zu ah, ach so und ja, damit es nicht sofort auffiel, dass ich eigentlich gar nichts kapierte. Ihr Hinweis auf die blauen Augen allerdings brachte mich total aus dem Konzept. Die Frau bemerkte meine Verwunderung und erklärte mir: «Sie haben mir in die Augen geschaut, als ich Ihnen sagte, wie sehr ich Sie um diese Reise beneide! Weil ich aber blaue Augen habe, ist nichts passiert. Wären meine Augen dunkel, hätte ich Ihnen Unglück gebracht.» Gut weiss ich nicht über alles, was mich sonst noch alles sofort ins Unglück stürzen könnte, Bescheid, sondern erfahre es nur nach und nach. Denn das Unglück lauert in Russland immer und überall, viele Russen sind extrem abergläubig. Eine falsche Bewegung und – schnapp – ist die Falle zu. Sei es, weil man zum falschen Zeitpunkt den Abfall raus trägt oder jemandem über der Türschwelle die Hand gibt. Während die meisten Russen bedacht sind, das Schicksal nicht allzu sehr herauszufordern, gibt es allerdings auch andere. Solche zum Beispiel, die zwei Stunden in drei Grad kaltem Wasser schwimmen gehen. Ein sehr charmanter Verfechter dieser Form der Körperertüchtigung sass letzthin bei mir in der warmen Küche und versuchte mir weiszumachen, dass das wissenschaftlich erwiesen gesund sei. Mag ja sein, es sieht jedenfalls total bescheuert aus, weil die Schwimmer im eisig kalten Wasser Mützen aufhaben. Als er sich verabschiedete, küsste er mir die Hand. Ich machte die Tür hinter ihm zu. Kurz darauf klingelte es. Er hatte seine Zeitungen vergessen. Er kam noch einmal rein, nahm den Stapel Papier und schaute einen Moment lang in den Spiegel. «Noch einmal zurückkommen bringt Unglück. Ausser man schaut kurz in den Spiegel». Zwei Stunden im Eiswasser schwimmen geht, aber noch einmal zurückkommen bringt Unglück… Ich wunderte mich wieder einmal über dieses verrückte Land und kam ins Grübeln: Was ist eigentlich mit den Ausländern? Ich weiss nicht mal, dass ich dauernd kurz davor bin, mich unglücklich zu machen und – noch schlimmer – dabei andere mit ins Verderben zu stürzen. Wie kürzlich, als ich im Park sass und vor mich hin pfiff. Einem alten Mann missfiel dies. «Mädchen! Hören Sie auf zu pfeifen, das bringt Unglück!», sagte er. Was denn genau passiere, wollte ich wissen. «Sie verlieren alles Geld!», sagte er fast flehend. Ich fand das ein bisschen albern. Aber die Russen machen ja nie halbe Sachen. Wenn Scheisse kommt, dann immer in geballter Ladung. «Alles Geld?», fragte ich und sagte gutgelaunt «ach wissen Sie, das ist mir im Moment eigentlich egal». Da wurde der alte Mann richtig zornig. «Ja Ihnen vielleicht schon. Aber wenn Sie pfeifen und ich laufe Ihnen über den Weg, bringt das auch mir Unglück.»