Propusk

Moskau, den 20. February 2002

«Ohne Papier ist man in Russland ein Käfer», heisst ein schönes russisches Sprichwort – ohne Dokument kein Mensch. Letzthin war ich wieder einmal so ein Käfer: Ich hatte nämlich keinen Propusk. Ein Propusk ist zwar nur ein Zettel in Klopapier-Qualität. Darauf steht aber mein Name und das Unternehmen, das mich empfängt, bestätigt darauf, dass ich hereingelassen werden darf. In die allermeisten Bürogebäude Moskaus kommt man nur mit dem entsprechenden Propusk hinein. Für jeden Besucher muss die Sekretärin also so einen Zettel ausfüllen und ihn zum Eingang bringen. «Stark?», fragte mich der Wachmann und blätterte durch den Propusk-Haufen, der vor ihm lag. «Hab ich nicht», sagte er. «Für Sie liegt kein Propusk hier. Und ohne kommen Sie nicht rein». Ich hatte schon eine richtig schlechte Laune, weil ich fast zehn Minuten gebraucht hatte, um überhaupt den richtigen Eingang zu finden. Wie fast überall in Moskau war auch an diesem Gebäude kein Schild angebracht. Und jetzt musste ich mich auch noch mit so einem Idioten auseinandersetzen, bloss weil Oxana, die Sekretärin der Agentur, wo ich hinsollte, vergessen hat, bei diesem uniformierten Schlagbaum einen Propusk für mich zu hinterlegen. «Da ist ein Telefon. Rufen Sie an», sagte er und zeigte auf ein braunes Vorrevolutions-Modell an der Wand. Die Nummer wusste er natürlich nicht, die stand auch nicht auf dem vergilbten Fetzen, der daneben an der Wand klebte. Ich klaubte meine Unterlagen aus dem Rucksack, fand zum Glück die Nummer und zückte mein Handy. Besetzt. «Bitte lassen Sie mich rein, ich muss nur diesen Brief abgeben», bettelte ich. Doch er blieb hart. Ich wählte noch einmal. Noch immer besetzt. Ich merkte, wie ich immer wütender wurde. Vor ein paar Jahren, als bewaffnete Banditen am laufenden Band Überfälle auf arme Büroangestellte verübten, waren diese scharfen Kontrollen vielleicht angebracht. Solche Zwischenfälle gehören aber eindeutig der Vergangenheit an. Die Ochraniki, wie die Wachmänner heissen, nehmen ihren Job ernst. Als ich noch in die Sprachschule ging, hatte ich einen Jahrespropusk, einen blauen Halbkarton, auf dem mein Foto klebte und auf dem stand, dass ich in der Schule im fünften Stock Russisch lerne. Jeden Morgen musste ich meinen Propusk zeigen, obschon immer der selbe Mann dort sass. «Propusk?», fragte er jeden Morgen. Irgendwann, nach ein paar Monaten, platze mir der Kragen. «Ich habe ihn dabei», sagte ich und war schon fast im Drehkreuz drin. Der Wächter machte einen Satz, blockierte den Mechanismus und liess mich erst weiter, als ich den Propusk hervorgekramt hatte. Bei Oxana war immer noch besetzt. «Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich kann nicht», sagte der Wächter, mit einem Mal ganz freundlich. Ich hatte plötzlich Mitleid mit dem Typen. Eigentlich kann ich die Ochraniki ja verstehen. Lässt er mich rein, beweist er gleich selbst, dass er völlig überflüssig ist. Seinem Chef würde das mit der Zeit auch auffallen, er würde seinen Job verlieren. Dann wäre ich zwar kein Käfer mehr, er aber mit allergrösster Wahrscheinlichkeit arbeitslos.