Sajtschik

Moskau, den 20. April 2001

Ein kleiner Ausflug ins Grüne nach Jaroslawl, einer Stadt an der Wolga mit dem Zug ist ein Vergnügen, das nicht erst beim Biertrinken an der Wolga beginnt… Die Zug-Tickets müssen im voraus gekauft werden. Billete gibt es nur nach Vorweisen des Passes. Nicht etwa, weil der FSB, die Nachfolgeorganisation des KGB, genau wissen will, wo ich hinfahre, sondern – viel banaler – gegen Spekulanten. Die kaufen sonst die Tickets auf und verhökern sie dann gegen einen Aufpreis. Am Samstag zogen zwei Freunde mit meinem Pass los, um die Billete zu besorgen. Für die Hinfahrt am Sonntagmorgen war das kein Problem, aber alle Plätze im Zug am Sonntagnachmittag zurück waren ausgebucht. Stehplätze gibt es keine. «Kommen Sie morgen wieder, es gibt immer wieder Tickets», tröstete die Frau meine Freunde. Um acht Uhr früh am Sonntag morgen standen wir wieder am Schalter am Bahnhof. «Pässe!», schnauzte die Dame hinter dem vergitterten Schalter. Artig streckten wir ihr unsere Dokumente entgegen und warteten. Hinter uns wurden die Leute nervös. Schliesslich blockierten wir den Expressschalter. Nach einer Viertelstunde, in der sie ihren lahmen Computer mit all unseren Daten gefüttert hatte, schob die Frau die Pässe zurück. Es gab nur noch Plätze für die Hinfahrt. Alleine hätte ich einen Anfall bekommen. Meine Freunde sind aber sind bestens mit dem System vertraut. So lachten wir uns schlapp und beschlossen, trotzdem nach Jaroslawl zu fahren. Irgendwie würden wir schon wieder zurückkommen. Sicherheitshalber fragten wir auf der Hinfahrt unsere Zugbegleiterin. Wir sollten kurz vor Abfahrt des Zuges zurück nach Moskau zum ersten Wagen kommen, sagte sie. Da liesse sich dann noch «etwas organisieren». Kurz vor der Rückfahrt gingen wir in Jaroslawl noch einmal an den Schalter. «Haben Sie noch Tickets nach Moskau?». «Nein», sagte die Frau. Nach einem fünfminütigen Hin und Her gab sie sich plötzlich einen Ruck. Sie rief eine Natascha an, mit der sie lange sprach. «Gehen Sie zum Service-Punkt im nächsten Gebäude, dort bekommen sie vier Tickets», sagte sie. Als wir dort ankamen, gab es nur noch drei Tickets. Einer musste als Saitschik, als Häschen, mitfahren. So werden die Schwarzfahrer genannt, die die Schaffnerin bestechen, damit sie überhaupt in den Zug kommen. Die Schaffnerin, die selbe wie am Morgen, war nervös. Kein Wunder, schliesslich verdiente sie sich grad ein schönes Stück Lohn dazu, pro Saitschik 300 Rubel, rund 20 Franken, das Doppelte des Fahrpreises, und sie ging damit auch ein grosses Risiko ein, denn hin und wieder steigen Kontrolleure zu, die mächtig Ärger machen. Wir gingen in die Zug-Bar. Nach einer Stunde auf den unbequemen Barhockern tat uns der Hintern weh, wir gingen zurück zu unseren Plätzen. Aber sie waren besetzt, es sassen scheinheilig dreinschauende Menschen drauf: Saitschiks. Die Schaffnerin hatte unsere Plätze weiterverkauft. Ich wollte protestieren, aber die Schaffnerin schaute mich scharf an. «Ich habe euch geholfen, jetzt helft ihr mir», sagte ihr Blick. Wir trotteten brav zurück zur Bar. So unbequem, beschlossen wir, sind die Hocker gar nicht…