Scheremetjewo

Moskau, den 20. March 2002

«Was? In Moskau lebst du? Spinnst du?» Das bekomme ich in der Schweiz hin und wieder zu hören. Dabei ist das wirklich Schlimme nicht in Moskau zu leben, das ist sogar ganz angenehm, meistens. Was wirklich schlimm ist, ist in Moskau anzukommen. Damit meine ich nicht den Flug mit Aeroschrott, wie meine Freunde in Russland meine Lieblingsairline nennen. Ich bin mittlerweile Mitglied beim «Aeroflot Bonus Programm» für Vielflieger. An den herben Charme der Flight Attendants habe ich mich schon lange gewöhnt. Und Durchsagen wie «Herzlich willkommen auf dem Flug nach Genf», wenn ich im Flugzeug nach Zürich sitze, können mich auch nicht mehr aus der Ruhe bringen. Ich bin nämlich Profi. Vor allem, was die Vorbereitung auf die Passkontrollen im Moskauer Flughafen Scheremetjewo 2 angehen. Nachdem ich die letzte Stunde vor der Landung mit Entspannungsübungen und autogenem Training verbracht habe, fahre ich sicherheitshalber schon kurz vor der Landung meine Ellenbogen aus und versuche mich, am liebsten noch im Sinkflug, gleich neben den Ausgang zu stellen, um die Pole-Position im Rennen auf die Zollhäuschen zu besetzen. Das ist extrem wichtig. Ein guter Startplatz kann nämlich bedeuten, dass man nur eineinhalb Stunden in der Schlange steht statt zwei Die Aeroflot-Drachen sind natürlich mit meinen Plänen meist nicht einverstanden. Selten lassen sie mich die letzten Minuten in der Business-Class mitfliegen, meist befördern sie mich aber zurück auf meinen Platz. Zwar flötet die Chef-Flight-Attendant ins Mikrofon, dass es im Interesse der eigenen Sicherheit besser sei, sitzen zu bleiben. Ich allerdings pfeife darauf. Wenn ich die Wahl habe zwischen einem blauen Flecken, einer Beule am Kopf oder einem Nervenzusammenbruch, wähle ich eine der ersten beiden Varianten. Kaum geht die Tür auf, geht das Geschubse los. Denn jetzt kommt es darauf an, zuerst bei der Passkontrolle zu sein. Falls man überhaupt von «zuerst» die Rede sein kann. Normalerweise stehen da nämlich schon hunderte von Leuten, die alle schon länger her angekommen sind. Die stehen aber nicht etwa in Schlangen, sondern auf einem Haufen. Von den acht Passkontrollhäuschen sind meist nur zwei, wenn es gut geht, drei besetzt. Und manchmal macht eins einfach mittendrin zu. Die Leute, die davor schon stundenlang in der Schlange gestanden haben, haben natürlich überhaupt keine Lust, sich noch einmal hinten anzustellen. Und schwupps, wird es noch enger. Spätestens dann fange ich an, mich zu hintersinnen und frage mich ernsthaft, warum ich eigentlich immer wieder nach Moskau fliege. Früher dachte ich, die Russen kriegen das einfach nicht gebacken, den Flughafen und vor allem den Passkontrolle so zu organisieren, dass man die Prozedur einigermassen psychisch gesund überstehen kann. In den vielen Stunden, die ich schon in diesen Schlangen stand und über die Frage grübelte, warum das nicht besser organisiert wird, kam mir nur eine Antwort in den Sinn: Die machen das absichtlich – wer Scheremetjewo überlebt, den kann in Russland nichts mehr umhauen.