Sprache

Moskau, den 12. December 2002

Russisch ist eine schöne Sprache. Und die Russen haben allen Grund, auf ihren fast unermesslich reichen Wortschatz stolz zu sein. Mich treibt diese Vielfalt allerdings des öfters mal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Wie heisst es doch: Die Sprache ist das Abbild der Realität. Ein paar Beispiele? Im Russischen gibt es zwar das Verb «haben», aber es wird nur selten gebraucht. Will ich sagen, dass ich eine Schwester habe, so muss ich sagen: «Bei mir ist eine Schwester». Haben die Russen vielleicht deshalb den Kommunismus erfunden? Dasjenige System also, bei dem das Haben – das Eigentum – verpönt ist? Auch mit dem Verb «sein» ist es nicht so einfach. «Sein» gibt es in der Gegenwart nicht, nur in der Vergangenheit und in der Zukunft. «Ja Schurnalistka» – ich bin Journalistin, stelle ich mich jeweils vor. Nach längerem Überlegen bin ich zum Schluss gekommen, dass die Abwesenheit des Seins in der Gegenwart nicht wirklich erstaunlich ist. Schliesslich empfinden Russen die Gegenwart schon seit Jahrzehnten als unerträglich. Witzig ist, dass man in der Nation, die bei Sportveranstaltungen in den letzen Jahrzehnten immer zuvorderst mit dabei war nicht sagen kann «ich siege morgen beim Wettkampf». Diese Aussage kann man nur über die Konstruktion «ich werde morgen den Sieg erringen» machen. «Wir siegen morgen» kann man allerdings sagen. Auch diese Eigenheit der russischen Sprache ist nach langer Überlegung verständlich: Sportliche Siege von einzelnen waren zu Sowjetzeiten ja immer auch Siege des kommunistischen Systems über das kapitalistische. Mal abgesehen von eins zu eins aus dem Deutschen geklauten Wörtern wie «Wunderkind», «Schlagbaum» und «Gruppenseks», die mit hartem russischen Akzent ausgesprochen werden, heisst meine Lieblingskonstruktion allerdings: «Mne ne chotjelos rabotat’», übersetzt so ungefähr «mir wollte es nicht arbeiten». Die Russen sagen nicht «ich wollte nicht arbeiten», sondern etwas machte, dass ich nicht arbeiten wollte. Ich finde, wir sollten diese Formulierung unbedingt auch im Deutschen haben, dann hätten wir endlich die perfekte Ausrede: Ich hätte eigentlich gerne gearbeitet, aber es wollte mir einfach nicht! Mit meiner Russisch-Lehrerin Alla führe ich immer wieder an Absurdität grenzende Diskussionen über die Feinheiten der russischen Sprache: «Wie sagt man denn das bei euch?», fragte Alla kürzlich ganz erstaunt. Sie hatte mir grad das Verb «otstat’ ot poesda» erklärt: «Das ist, wenn du schon im Zug sitzt und dir noch in den Sinn kommt, dass du zum Beispiel noch kein Wasser gekauft hast. Wenn du dann noch einmal raus gehst und der Zug weg ist, wenn du wieder auf den Bahnsteig kommst, dann heisst das otstat’ ot poesda». Alla konnte nicht glauben, dass es das Verb im Deutschen nicht gibt. Erst mit folgender Erklärung gab sie sich zufrieden: «Bei uns halten die Züge nur ganz kurz. Und ausserdem brauchen wir nicht auszusteigen, um Wasser zu kaufen. Das kann man bei uns im Zug machen!»