Telefonieren

Moskau, den 20. June 2001

Was wäre Russland ohne Telefon! Die Leute hängen hier immer an der Strippe. Egal, ob ich in einer Bank Geld wechsle, die Frau hinter dem Schalter muss erst noch ihr Telefongespräch zu Ende führen. Ich kann aber auch nur in einem Reisebüro eine Auskunft wollen. Die Frau lästert am Telefon mit ihrer Freundin über ihren Mann. Ich muss warten. Sogar in den Ämtern: Die Damen und Herren telefonieren. Schliesslich sind Lokalgespräche gratis. Kaum zu Hause, geht der Telefonterror auf andere Weise weiter. Meistens wollen die vielen Anrufer, die jeden Tag bei mir landen, gar nicht mit mir reden. Sie sind ganz einfach falsch verbunden. Gestern, als ich nach Hause kam, stand auf der Strasse ein Telefon-Schaltkasten offen, eine Million Kabel hing raus. Zwei Typen mit einem Bier in der Hand machten sich daran zu schaffen. Seither wundere ich mich nicht mehr über die vielen Fehlschaltungen. Klingelt das Telefon, schreie in der hier typischen Art und Weise «alllooooaaaahhhhhh!» ins Telefon. Damit signalisiere ich: «Sie sind eh falsch verbunden. Aber schiessen Sie trotzdem einmal los.» «Guten Tag» sagt hier kaum jemand. Und wenn, das weiss ich mittlerweile, wollen sie mir einen Kühlschrank der Superklasse andrehen. Gestern rief wieder einer an: «Kann ich mit Igor Nikolajewitsch sprechen?» Das ist das Äusserste an Höflichkeit. Ein Igor Nikolajewitsch wohnt aber nicht bei mir. «Sie haben sich verwählt», sagte ich und wollte sofort wieder auflegen. Aber er war schneller fuhr mich, ohne dass er sich bei mir vorgestellt hat, erst einmal an: «Wer sind Sie überhaupt?» Letzthin war meine Leitung tot. Das war auch schrecklich. Per Handy meldete ich mich bei der Telefongesellschaft, eine halbe Stunde später klingelten zwei Typen mit Aktenkoffer, einem orangen Telefonhörer mit eingebauter Wählscheibe und einem Feuerzeug in der Hand. In zwanzig Zentimeter-Abständen rissen sie das Telefonkabel von der Wand und schmolzen den Plastik weg, fanden die kaputte Stelle und reparierten sie. Kaum fertig, telefonierte der eine erst einmal mit seiner Frau. Ich habe mich auch schon daran gewöhnt, dass russische Freunde, wenn sie zu mir kommen, mich so begrüssen: «Hallo, schön Dich zu sehen! Darf ich mal telefonieren?» Zum Telefonieren haben die Russen ein ganz entspanntes Verhältnis. Und auch zu den Rechnungen, weil die meisten eh nur in der Stadt telefonieren und deshalb gar keine bekommen. Einmal im Monat stelle ich mich also mit einer riesen Beige Zettel in die Schlange bei der Bank, denn ich telefoniere ins Ausland und das ist leider nicht gratis. Die Rechnungen sind klitzeklein, 12 mal 12 Zentimeter. Je mehr man telefoniert, desto mehr Zettel hat man. Die Frau hinter dem Schalter rechnete laut die Beträge der einzelnen Zettel zusammen. Die Leute hinter mir in der Schlange hielten die Luft an und schauten mir über die Schulter. Und noch bevor die Kassiererin den Totalbetrag in die Schalterhalle posaunte, sagt sie mir: «Sie telefonieren aber viel!» Ich telefoniere viel, aber zu Hause. Da, wo es niemanden stört. Russen hingegen telefonieren überall. Sogar im Kino. Die Handys bimmeln am laufenden Band. Und die Leute gehen auch noch dran: «Alljo? Wie gehts? Ich bin grad im Kino! Super, der Film…»