Ticketkauf

Moskau, den 18. February 2004

Der junge Rekrut sah mich mitleidig an: «Sie glauben ja selber nicht daran, dass das gut geht!», sagte er und hielt unentschlossen die hundert-Rubel-Note in der Hand, die ich ihm eben in die Hand gedrückt hatte. Wir standen beide dicht gedrängt bei der hintersten Tür eines voll gepackten Moskauer Trolleybusses. Feierabend, es gab kein Durchkommen zur Busfahrerin, bei der man für zehn Rubel, vierzig Rappen, Tickets kaufen kann. Die hundert Rubel sollte der junge Soldat deshalb nach vorne reichen, damit dann derjenige, der am nächsten bei der Fahrerin steht, für mich ein Ticket für kauft. Das Ticket-Kauf-Prinzip ist ganz einfach und funktioniert in Sibirien genau so wie in Zentralasien: Statt sich an allen vorbeizudrängeln haut man einfach demjenigen, der vor einem steht auf die Schulter, reicht ihm zehn Rubel und sagt «bitte». Der nimmt es schweigend an sich, tippt demjenigen, der vor ihm steht, auf die Schulter und sagt wieder nur «bitte». Das geht so lange, bis das Geld vorne bei der Fahrerin angekommen ist. Die reisst seelenruhig einen Talon ab, während sie gekonnt ihren klapprigen Bus an einem mitten auf der Strasse parkierten Mercedes vorbeimanövriert. Der Talon wandert dann nach dem gleichen Prinzip wieder nach hinten. Die Moskauer Busse sind tagsüber nur selten wirklich voll, so dass man ungefähr erahnen kann, wo das Geld gerade ist. Im Stossverkehr zwischen fünf und acht Uhr abends allerdings ist das unmöglich. Die Passagiere standen dicht gedrängt um mich herum. Der junge Soldat wedelte deshalb noch immer mit dem Schein vor meiner Nase herum: «Mädchen, Sie sind Ausländerin und wissen nicht, wie das Leben bei uns ist», sagte er. «Ich rate Ihnen dringend davon ab, die hundert Rubel loszuschicken, es ist zu viel los hier. Irgend jemand wird das Wechselgeld einsacken!», meinte er. «Haben Sie keine zehn Rubel-Note?» Hätte ich eine gehabt, hätte ich sie auf die Reise geschickt. «Dann fahren Sie doch schwarz. Um diese Zeit gibt es keine Kontrollen – zu voll!», meinte der Soldat. Ich aber wollte wissen, was passiert. Und ausserdem sind hundert Rubel knapp vier Franken, den Verlust konnte ich also tragen. «Ich will es trotzdem versuchen!», sagte ich und nickte ihm aufmunternd zu. Er zuckte nur mit den Schultern, haute einem anderen Passagier auf die Schulter, reichte den Schein und sagte: «eins, bitte!». Der Bus schaukelte weiter durch den Feierabendverkehr und kam nur langsam vorwärts. Der junge Soldat, eine alte Oma und zwei Arbeiter standen um mich herum, sie schauten mich verstohlen an, es war klar, dass auch sie gespannt waren, ob das Geld zurückkommt. Nach etwa zehn Minuten sah ich das Ticket kommen. Der Soldat nahm es, schaute mich triumphierend an und hielt es mir unter die Nase. Er holte Luft und wollte etwas sagen. Doch da tippte ihm der hinter ihm stehende Mann noch einmal auf die Schulter und sagte: «Junger Mann. Nehmen Sie auch noch das Wechselgeld!» Für eine Sekunde machte er einen enttäuschten Eindruck. Doch dann leuchteten seine Augen auf. «Mädchen!», sagte er zu mir: «Da sehen Sie mal, was wir Russen doch für ehrliche Leute sind!»