Verkäuferin

Moskau, den 20. November 2001

Die Kundin ist die natürliche Feindin der Verkäuferin und wird deshalb am besten mit Nichtbeachtung gestraft. Begrüssungen sind selten. Mehr als ein «schto wam?», übersetzt etwa so viel wie «was bekommen Sie?», gibt es selten. Am Anfang hat mich das schrecklich genervt. Mittlerweile find ich es ganz praktisch: Ich kann stundenlang ohne einmal gestört zu werden alle Pulloverhaufen in Unordnung bringen, während die Verkäuferinnen vor lauter Langeweile fast von den Stühlen fallen und das nur verhindern, in dem sie ihr Kinn auf der Glasplatte des Tresens abstützen. Kein «kann ich Ihnen behilflich sein?», oder gar «darf ich Ihnen etwas zeigen?», mit denen mich das Verkaufspersonal in Zürich mittlerweile in den Wahnsinn und vor allem schnell aus den Läden treibt. Im Sowjetstil-Quartierladen bei mir um die Ecke, wo ich fast täglich einkaufe, arbeitet eine Frau in der Kaffee- und Tee-Abteilung, die hat mir von Anfang an immer nett zugelächelt. Erst kürzlich erzählte sie mir, warum sie sich immer freute, wenn ich wieder kam: «Was hatten wir für einen Spass mit Ihnen, als Sie noch nicht so gut Russisch konnten!», sagte sie. Das verstand ich nicht, aber mir schwante Böses. Sie fuhr weiter: «Ich fragte Sie jeweils, ob Sie eine Tasche benötigen, sie streckten mir dann ihre Einkaufstasche entgegen und sagten: Njet, ja paket.» Mittlerweile weiss auch ich, was das heisst: Nicht, wie ich sagen wollte, nein, ich habe eine Tasche dabei, sondern grammatikalisch einwandfrei richtig nein, ich bin eine Tasche. Die ganzen Verkäuferinnen rund herum hatten mitgehört und lachten sich schlapp. Seither habe ich in diesem Laden viele Freundinnen. Die Frau aus der Gemüse-Ecke begrüsst mich seither mit «meine Sonne», und will ich zum Beispiel Konfekt kaufen, wie man es in Russland zum Tee isst, flüstert mir die Verkäuferin der Süsswaren-Abteilung zu: «Diese Sorte nehmen Sie besser nicht, die sind zwar gut, aber nicht mehr frisch. Diese hier sind besser, erst heute morgen gekommen!» Auch in der Quartier-Kneipe bei Igor Andrejewitsch werde ich so behandelt. Kürzlich traf ich mich mit Freunden bei ihm. Wir bestellten am Tresen. Igor zapfte gerade Bier für einen Gast, der vor mir stand. «Vier», sagte ich. Er zwinkerte mir zu, wartete, bis der Gast mit seinem Bier aus Hörweite war und lehnte sich über den Tresen: «Das Bier schmeckt heute beschissen, keine Kohlensäure», flüsterte er. «Also gut, dann trinken wir halt Tomatensaft und Wodka», beschlossen wir. Igor Andrejewitsch war damit nicht einverstanden. «Weisst du, wo weiter unten an der Strasse der Kiosk ist? Geh dir da ein paar Bier kaufen, ihr könnt sie gerne hier trinken!», sagte er. Ich war aber viel zu faul. Da packte Igor Andrejewitsch kurz entschlossen einen meiner Freunde am Arm und zog ihn auf die Strasse. Nach ein paar Minuten kamen sie mit vier Bierflaschen zurück. Igor Andrejewitsch hatte für uns alle Bier geholt und wollte nicht einmal, dass wir es ihm bezahlen.