Verstehen

Moskau, den 4. April 2004

Eben habe ich meine Briefe aus Moskau durchgelesen, die hier an dieser Stelle schon erschienen sind. Ich bin dabei fast ein bisschen wehmütig geworden: Das hier wird nämlich nach fast vier Jahren mein letzter Brief aus Moskau für die Annabelle! Was habe ich in der Zeit alles erlebt! Die zwei Monate in Sibirien, wo ich Russisch gelernt habe. Meine sibirische Schlummermutter Nadjeschda, die mir labberig-weichgekochte Leberstücke in Rahmsauce auf Spaghetti zum Frühstück kochte… Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich nur daran denke. Oder die Geschichte mit dem Sauerkraut-Verkäufer, den ich mal traf und der mir versprach, dass ich einen grösseren Busen bekommen würde, wenn ich sein Kraut essen würde (es hat nicht genützt…). Oder der Taxifahrer, der mir einen so übel riechenden Fisch schenkte, dass ich mich bei der Pressekonferenz, zu der er mich gefahren hat, in die hinterste Ecke setzen musste. In dem ich mithin absurde Geschichten erzählt habe, habe ich vor allem auch für mich selber versucht, Erklärungen zu finden, warum Russen so ticken wie sie ticken. Ich muss allerdings von Anfang daran gezweifelt haben, mein Ziel zu erreichen, denn schon der Titel meines allerersten Briefes lautete: «Russland verstehen? Niemals!» Ich habe in den letzten vier Jahren nicht nur viel erlebt, ich habe auch viel gelernt. Ich weiss jetzt zum Beispiel, warum meine Vermieterin Swetlana eine Kiste voller kaputter Glühbirnen im Schrank unter dem Abwaschbecken in der Küche aufbewahrt hat (das kommt noch aus Sowjetzeit, als man die kaputten Birnen zur Arbeit mitnahm und sie dort gegen eine funktionierende Birne austauschte). Ich verstehe nun auch, warum die Verkäuferinnen hier oft so unfreundlich sind (Zitat Verkäuferin: «Wenn du so wenig verdienen würdest wie ich, wärst du auch unfreundlich). Ich muss mich heute auch nicht mehr darüber wundern, warum es in den Mensen nur Plastik-Messer gibt (die kann man sich weniger gut in den Rücken stecken). Es gibt aber noch immer viel mehr Dinge, die ich nicht verstehe. Wieso sind die Menschen hier so unglaublich ruppig, wenn man sie nicht kennt und schenken einem, sobald man sie persönlich kennen gelernt hat, das letzte Hemd? Warum pampen sie jeden Frühling einfach Farbe über den Rost an den Geländern und Zäunen, statt den Rost erst wegzumachen und dafür den Zaun nur jedes fünfte Jahr neu zu streichen? Den Titel meines ersten Briefes könnte man also auch als Titel meines letzten Briefes setzen. Mit einem grossen Unterschied. Als ich meinen ersten Brief geschrieben habe, hatte ich noch den Anspruch, Russland verstehen zu wollen. Diesen Anspruch habe ich mittlerweile nicht mehr. Ich werde die Russen nicht begreifen. Das ist aber auch nicht notwendig. Wie ich das meine, kann ich an einer kleinen Begebenheit erzählen, die sich kürzlich in meiner Küche abgespielt hat. Ich trank mit Alla, meiner Russischlehrerin, Tee und wir redeten einmal mehr darüber, warum Westler freiwillig in Russland leben würden. «Ich glaube, ich werde euch Westler nie verstehen!», sagte Alla und schüttelte ihren Kopf. Ich schmunzelte und sagte: «Das passt ja gut, wir Westler verstehen euch Russen nämlich auch nicht!» Wir sahen uns an, prusteten los und lachten so lange, bis uns alles wehtat.