Willkommen

Moskau, den 23. November 2000

«Mit dem Verstand kann man Russland nicht verstehen, an Russland muss man glauben.» Dieses Zitat ist mir oft in den Sinn gekommen. Ich habe in den fünf Monaten, seit ich hier in Moskau bin, viel über meine neue Heimat nachgedacht – verstehen tu’ ich das Land nicht. Daran glauben kann ich aber auch nicht. Russland kann schrecklich sein, die Armut, die Besoffenen überall, die Babuschkas, die stundenlang in der Kälte stehen und einen Kohlkopf feilbieten. Aber Russland ist auch schön. Moskau ist ein Moloch, aber ein schillernder, pulsierender Moloch. Um alle Unsicherheiten auszuräumen sei an dieser Stelle festgehalten: Ich kann Klopapier kaufen – so viel ich will und ohne anzustehen. Ich kann auch Nutella kaufen – so viel wie ich mir leisten kann (ist nicht viel, Nutella ist hier horrend teuer) und ich kann getrost ohne Bodyguard aus dem Haus. Mir fehlt es an nichts. Meine Vormieter haben alles hinterlassen, Russen werfen nie etwas weg. So zähl ich zu meinen Schätzen eine gigantische schwarze Wohnwand mit Plastikfurnier – habe ich mir schon immer gewünscht. Die kleinen dekorativen metallic-schimmernden Porzellanschwäne habe ich in den Badezimmerschrank gesteckt, die Tapetenreste von der vorletzten Renovation liegen unter dem Bett. Die Vorstellungen darüber, wie man schön wohnt sind hier eben ein bisschen anders. Wie so vieles andere auch. Die Heizkörper in meiner Wohnung strahlen tropische Wärme aus, Ventile gibt es keine. Abhilfe schaffe ich auf die russische Art: Ich mache einfach das Fenster auf. Das hat den Vorteil, dass es auch draussen wärmer wird… Moskau wäre ohne all die offenen Fenster wahrscheinlich noch zehn Grad kälter! Das Wasser wird in zentralen Heizkraftwerken aufgeheizt und in der ganzen Stadt verteilt. Die Röhren, die bis zu einem Meter Durchmesser haben, sind aber nicht etwa vergraben, sondern werden da verlegt, wo es gerade passt. Hinter unserem Haus liegen zwei solche Röhren. Darauf liegen nachts die Obdachlosen und die Strassenkatzen, weil es so schön warm ist. Eben habe ich gelesen, dass es in Russland 160’000 Kilometer solcher Röhren gibt… Wenn mir etwas das Leben schwer macht dann nicht die Mafia, sondern ich mir selber: Es sind kleine Dinge, dafür aber viele. Mir fällt es schwer, nach jahrelangem Training im Joghurt-Deckel-Abschlecken und Heizkörper-Regulieren mich nun daran zu gewöhnen, die Fenster einfach offen zu lassen und mich damit abzufinden, dass die Leute hier andere Probleme haben und es eigentlich unerheblich ist, was ich grad meine oder denke. Wenn mich das alles zu sehr nervt oder mir wieder einmal früh morgens eine Riesenkakerlake aus der Badewanne entgegenschaut, denk ich an das, was meine Russisch-Lehrerin Alla immer sagt, wenn ich ihr wieder einmal das Herz ausschütte: «Herzlich willkommen in Russland!»