Feiertag

Moskau, den 12. June 2003

«Am Sonntag ist Freitag!», sagt Tanja, die Kiosk-Verkäuferin und wischt mit der Hand energisch die Krümel vom Tresen, als ob sie damit das Thema endgültig vom Tisch haben möchte. «Ja, aber Samstag ist erst am Sonntag in einer Woche!», sagt der Stammkunde Kolja, der wie jeden Tag mit einer Bierflasche in der Hand an den Kiosk gelehnt steht. Ein zweiter Kunde, der sich gerade eine handvoll getrocknete Tintenfischringe in den Mund schiebt, weiss es besser: «Der Samstag ist gar nicht arbeitsfrei, deshalb muss er auch nicht nachgeholt werden und deshalb ist der Sonntag in einer Woche ein richtiger Sonntag! Der nächste Freitag, also morgen, ist aber am nächsten Sonntag, das stimmt!» Tanja blickt finster drein. «Mir ist das alles scheissegal, ich muss eh arbeiten!» Heute ist in Russland Feiertag – Tag der Unabhängigkeit. Weshalb man genau frei hat, interessiert hier in Russland aber niemanden wirklich. Hauptsache, man muss nicht zur Arbeit und kann richtig schön feiern. Die Russen lassen sich keinen Feiertag entgehen: Während es bei uns einfach grosses Pech ist, wenn ein Feiertag auf einen Sonntag fällt, wird der Feiertag in Russland einfach kurzerhand auf den Montag gelegt. Praktisch ist es natürlich auch, wenn man möglichst lange frei hat. Aus diesem Grund haben die Russen eine Technik entwickelt, allfällige Feiertage und freie Tage so aneinanderzuhängen, dass sie möglichst lange nicht zur Arbeit müssen. Fällt ein Feiertag zum Beispiel auf einen Donnerstag, so wird der Freitag mit dem Sonntag ausgewechselt. Das heisst also: nach dem Donnerstag kommt der Sonntag, dann der Samstag und dann der Freitag. Wer einen Büro-Job hat, der hat dann drei Tage frei und muss erst am Sonntag, weil dann ja Freitag ist, wieder arbeiten gehen. Oder auch nicht, weil am Sonntag zwar Freitag ist, aber eigentlich ist doch am Sonntag Sonntag und die andern arbeiten dann auch nicht, so dass man es eigentlich ganz sein lassen kann. Das ist alles ganz schön kompliziert! Und es ist lange nicht fertig mit den feierlichen Tagen! Neben Geburtstagen, an denen man nie, nie, nie vergessen sollte zu gratulieren und Blumen zu bringen, gibt es noch eine dritte Kategorie von Feiertagen, die es zu beachten gilt: Die Berufsfeiertage. Am 18. März feiert die Steuerpolizei, am 12. April die Kosmonauten, am 30. April die Feuerwehr… Wie Feiertage überhaupt dienen auch diese Tage vor allem als Vorwand für gigantische Besäufnisse, allerdings nur für die Angehörigen der jeweiligen Berufsgruppe. Der Rest muss ja arbeiten. Vielleicht kommt zu den elf arbeitsfreien Festtagen, die Russland schon kennt, bald ein zwölfter dazu. Anfang Jahr hat der Sprecher des russischen Oberhauses vorgeschlagen, den 31. Dezember auch zum arbeitsfreien Feiertag zu erklären. Schliesslich sei Silvester, der zu Sowjetzeiten als Weihnachts-Ersatz diente, eines der wichtigsten Feste Russlands. «Die Frauen müssen den ganzen Tag über arbeiten und dann noch das Festessen vorbereiten!», war die Begründung. Ein bestechendes Argument, gegen das in Russland wohl niemand etwas einzuwenden hat!