Plastikmesser

Moskau, den 21. April 2002

Seit ich in Moskau lebe, habe ich darüber gewundert, dass es in der Mensa bei mir um die Ecke nur weisse dünne Wegwerf-Plastikmesser gibt. Nach dem Essen werden die aber nicht weggeschmissen, sondern zusammen mit den verbogenen und verbeulten Alu-Löffeln und –Gabeln mit den Zahnspuren dran zum Abwaschen abgegeben. Da ich ein paar gute Freunde haben, deren Lieblingssport es ist, in Flugzeugen Besteck zu klauen, dachte ich, die Gäste hätten einfach alle richtigen Messer eingesackt. Diese Erklärung stellte mich aber nicht wirklich zufrieden. Warum sollten es Besteckdiebe nur Messer abgesehen haben? Kürzlich war ich wieder einmal in der Mensa. Jedes Mal, wenn ich ein paar Tage nicht da war, begrüssen mich die kleinen dicken Köchinnen in ihren weissen Schürzen fast etwas vorwurfsvoll: «Wo warst du denn so lange! Wir dachten schon, du hättest uns vergessen!» Und die Kassiererin lächelt neckisch: «Na, gut erholt?» Ich sage meistens nichts, denn wenn ich erkläre, ich hätte zu viel zu tun um essen zu kommen, glaubt mir das sowieso niemand. Dafür fiel mir die Frage ein, warum die Messer aus Plastik seien: «Damit sich die Gäste nicht gegenseitig die Messer in den Rücken stecken und sich weh tun», sagte die Kassiererin und sah wohl mein verdutztes Gesicht. «Es ist noch nie etwas passiert», beruhigte sie mich, das sei «eine reine Vorsichtsmassnahme». Wenn ich an einem der kleinen quadratischen Tische sitze und meine Tagessuppe löffle, wundere ich mich immer wieder darüber, wie viele verschiedene Welten hier in Moskau nebeneinander existieren. Ein Haus weiter sind todschicke Boutiquen mit gepfefferten Preisen, hier gibt es ein Mittagessen für drei Franken. In der Mensa fühle mich in eine andere Zeit versetzt. Der Raum sah bestimmt schon zu tiefen Sowjetzeiten so aus wie heute: Ausgelatschte beige Kacheln am Boden, an den Wänden hellbraune Plastik-Platten. Vergilbte Fotografien in hellblauen Rahmen mit so hübschen Sujets wie ein Moskauer Park oder zwei kleine rote Katzen, die mit ihren Pfoten in einem Goldfischglas fischen, sind die einzige Dekoration. Die Tische sind mit dunkelbraunem Holzimitat überzogen, die Stühle mit dunkelrotem Kunstleder. Dauernd wuselt eine kleine alte Frau mit einem Lappen durch den Raum und fegt die Tische. Was mir manchmal ein bisschen zu denken gibt, ist, wie sehr ich offensichtlich das Bild von den Ausländern präge, das die Frauen haben. Kürzlich empfahl mir die Chef-Köchin eine Suppe, deren Namen ich nicht kannte. Und auch mit der Erklärung wusste ich nichts anzufangen. Hinter mir war eine lange Schlange, also sagte ich einfach ja. Was auf den ersten Blick wie Pilze aussah, entpuppte sich beim näher Hinschauen als hauchdünn gescheibelte Nieren. Gar nicht mein Geschmack! Ich ass alles andere und schob die Scheiben auf dem geblümelten Tellerrand zusammen. Als ich meinen Teller wie es sich gehört auf den Küchentresen stellte, schaute mich die Abwaschfrau mit grossen Augen an, drehte sich zu ihrer Arbeitskollegin um und sagte kopfschüttelnd: «Du, Ausländer mögen keine Nieren!»