Fussgänger

Moskau, den 26. February 2004

Es ist nicht lange her, da fuhr ich wieder einmal in der Schweiz Auto. Das Radio schön laut, flog die Landschaft an mir vorbei. Doch schon nach wenigen Kilometern wurde mir klar: Autofahren in der Schweiz ist nichts mehr für mich. Nicht weil ich das Autofahren verlernt hätte. Aber ich wohne seit vier Jahren in einem Land, wo sich die Fahrweise doch erheblich von der schweizerischen unterscheidet und wo im Strassenverkehr Schilder aufgestellt werden müssen, auf denen steht: «Fussgänger sind auch Menschen». Regel Nummer 1 im russischen Verkehr: Autofahren ist ein ständiger Kampf. Man kann sich mal vorstellen, was passiert, wenn jeder diese Regel für sich anwendet. Das schönste Beispiel findet man am Flughafen in Moskau. Dort stehen bei der Ausfahrt sieben Häuschen, wo man einen Zettel abgeben muss, den man bei der Einfahrt aus einem Automaten herausgepopelt hat. Ein Mitarbeiter im Häuschen rechnet dann die Zeit aus. Auf einer Leuchttafel erscheint der Betrag, den man zu zahlen hat. Die ersten fünfzehn Minuten Parkzeit sind gratis. Deshalb fahren viele Leute gar nicht erst auf das Flughafenareal, sondern warten, um Geld zu sparen, bis die Angehörigen sich per Handy melden und fahren erst dann hinein. Logisch, dass dann jeder so schnell wie möglich wieder raus will. Kompliziert wird die Sache deshalb, weil sich die Strasse vor der Ausfahrt verengt. Würden die Fahrer im Reissverschluss-System einordnen, kämen alle innerhalb von 15 Minuten raus. Weil aber jeden den andern mit Verachtung bestraft und nur auf seinen eigenen Vorteil – sprich noch einen Millimeter mehr – bedacht ist, geht meistens ausser den Hupen gar nichts mehr. Das ist dann jeweils der Moment, an dem ich mir denke: «Herzlich willkommen in Russland!» Es geht noch idiotischer: Bei mir um die Ecke gibt es ein Cafe, wo die Reichen mit den Schönen Kuchenstückchen essen gehen. Die fahren immer im Auto vor. Das Quartier aber ist alt, die Strassen eng. Und weil mittlerweile in Moskau so viele Leute ein Auto haben, ist alles zugeparkt. Zwei Autos kommen nur dann aneinander vorbei, wenn einer dem anderen Platz macht. Und das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Denn es gibt Regel 2: Je schicker das Auto, desto mehr Rechte hat der, der drin sitzt. Wenn sich also bei mir im Quartier auf der Strasse ein Schiguli und ein Mercedes kreuzen, ist völlig klar, wer zurücksetzt und eine Lücke sucht. Dümmer ist, wenn zwei Mercedes sich treffen. Einer der Quartier-Polizisten hat mir mal erzählt, dass zwei Mercedes-Fahrer einmal eine ganze Stunde lang mit verschränkten Armen da gesessen hätten – keiner wollte nachgeben. Die russische Fahrweise färbt ab. Das wurde mir kürzlich auf der Autobahn zwischen St.Gallen und Zürich klar, als wieder einmal alle auf der Überholspur schlichen und ich mir dachte, man könnte doch einfach auf dem Pannenstreifen überholen, ganz nach der russischen Autofahrer-Regel 3, die besagt, dass Verkehrsregeln allerhöchstens wie Empfehlungen gehandhabt werden. Aber keine Angst! Ich sass nicht am Steuer. In der Schweiz bin ich nur als Mitfahrerin oder im Zug unterwegs. Bin ja nicht wahnsinnig!