Datscha

Moskau, den 21. July 2003

Die Frau schaute höchst irritiert und es war klar: Mit uns hatte sie nicht gerechnet. Wir hatten uns zwar übers Internet angemeldet und ihre heimelige hellblau gestrichene Datscha für ein Wochenende gemietet. Friedlich im Garten ein paar Schaschliks grillen war unser Plan und dazu an der Sonne sitzen und lesen. Sonst nichts. Olga, so hiess die Frau, war sich aber ganz offensichtlich andere Klientel gewohnt. Sie hatte ein weisses Schürzchen an und empfing uns diensteifrig am grossen Holztor. Ich kann verstehen, dass sie irritiert war. Was sie sah, als sie das Holztor aufsperrte, waren fünf unausgeschlafen Erwachsene und ein Baby, das wie am Spiess brüllte. Wir mussten früh aufstehen, um mit dem Vorortszug fünfzig Kilometer aus Moskau hinauszufahren. Einer meiner Freunde war schon ewig nicht mehr beim Coiffeur gewesen und sah entsprechend aus. Der zweite schleppte einen riesen Bierkasten heran und der dritte hatte eine knapp siebzig Zentimeter lange rosa-gelbe Wasser-Pump-Gun umhängen. Olga liess uns trotzdem rein. Noch bevor wir die Tür zum zweistöckigen Holzhaus erreicht hatten, wollte sie noch wissen: «Feierwerk nuschn?», was so viel heisst, wie: «Brauchen Sie ein Feuerwerk?» Dieses Mal waren wir diejenigen, die irritiert schauten. «Die anderen Gäste, die ich hier empfange, wollen immer ein Feuerwerk», sagte sie erklärend. Es gibt nichts, was Russen auf der Datscha nicht tun. Datschen, Holzhäuser mit einem Garten drum herum sind fester Bestandteil der russischen Kultur. Am Freitag abend stauen sich die Autos stundenlang auf dem Weg ins Grüne. Es gibt eigens Hochglanzmagazine für die Datschenbesitzer, die «Datschnikis». Vor den Toren Moskaus stehen riesige Baumärkte «alles für die Datscha». «Eine Datscha hat man entweder, weil man arm ist, dann baut man Kartoffeln an, oder weil mein reich ist, dann ruht man sich aus», weiss der russische Volksmund. Die wenigsten vermieten ihre Datscha so wie Olga. Denn die Landhäuser sind eine gute Möglichkeit, den engen Wohnverhältnissen in der Stadt zu entkommen, wo es pro Familie im Durchschnitt nicht mehr als zwei Zimmer gibt. Die Grosseltern (besser gesagt die Grossmütter, wie nämlich grad zu lesen war, ist die Lebenserwartung der Männern schon wieder gesunken und beträgt noch 57 Jahre, diejenige der Frauen 72 Jahre…). Also, die Grossmütter werden schon im Frühling auf die Datscha verfrachtet – zum Kartoffelpflanzen und Knoblauchstecken. Rund 27 Millionen Datschen-Grundstücke gibt es in Russland. Neunzig Prozent aller Kartoffeln und achtzig Prozent des Gemüses, das jährlich in Russland gegessen wird, wird in den Gärten rund um die Datschen angebaut, sagte der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich. Natürlich werden Kartoffeln auch im grossen Stil auf Feldern angepflanzt. Doch die werden zur Herstellung von Selbstebranntem gebraucht. Der wiederum wird dann von den Männern im Übermass konsumiert, was dazu führt, dass ihre Lebenserwartung sinkt. Die würden besser mit der Grossmutter auf dem Bänkli sitzen und für das Geld, das sie für Wodka und Co. ausgeben, Kartoffeln vom Feld kaufen!