Aljona

Moskau, den 20. February 2001

Gestern hat mir Nadjeschda, meine sibirische Gastmutter, ihr Herz ausgeschüttet. Als sie 21 Jahre alt war, wurde ihre Mutter bettlägrig. Nadjeschda pflegte sie neben ihrem Vollzeit-Job als Buchhalterin. Vor drei Jahren starb die Mutter. Nadjeschda ist heute 57 Jahre alt, geheiratet hat sie nie. «Welcher Mann will denn schon eine Frau, die die ganze Zeit die Mutter pflegen muss?», sagt sie. Dann wurde auch noch ihr Vater krank. Und ihr Bruder. An Silvester hatte ihr Schwager einen Schlaganfall und liegt mittlerweile in einer Rehabilitationsklinik am Rand von Irkutsk. Nadjeschda fährt jeden Tag hin. «Der Schwager hat zwar eine Frau, meine älteste Schwester», sagt sie. «Die dumme Kuh hat aber ihr ganzes Leben nur Brot gegessen und ist so fett, dass sie es nicht mehr bis in die Klinik schafft.» «Es ist schrecklich, so alleine ohne Mann. Einer Frau, die keinen Mann hat, fehlt etwas», ist Nadjeschda überzeugt. Aber dann fängt sie an zu lachen. «Aber weisst du, noch schrecklicher als keinen Mann zu haben ist es, einen zu haben! Aljona, ihre Nichte, verdreht die Augen. Aljona ist 23 und hat eben ihr Wirtschaftsstudium abgeschlossen. Arbeit hat sie keine gefunden, so lernt sie noch Englisch. Nadjeschda und Olga, die Mutter von Aljona, arbeiten bis zum Umfallen, damit Aljona weiter zur Schule kann. Schliesslich soll sie es einmal besser haben. «Besser als ich, und besser als ihre Mutter, die sich von ihrem Mann hat scheiden lassen, als Aljona sechs Monate alt war, weil er ständig betrunken war!» Natürlich hat Aljona Verehrer. Das bringt die beiden Frauen in arge Bedrängnis, denn Aljona hat eigene Pläne. Sie möchte ausgehen, sich vergnügen und einen Mann aus dem Süden heiraten. Deshalb hat Olga, die Mutter, zu drakonischen Massnahmen gegriffen. Die Wohnungstür wird abgeschlossen und Aljona zum Englischkurs gebracht und wieder abgeholt. Klingelt das Telefon, geht Olga dran. Meldet sich ein Mann, den Olga nicht kennt, wird er erst einer strengen Prüfung unterzogen: «Wer sind Sie? Was wollen Sie? Was arbeiten Sie? Wo wohnen Sie?» Das führt jedes Mal zu einem Mordskrach. Aljona flippt aus, die Mutter weint, weil sie es doch nur gut meint und Aljona bekommt, wenn sie ihren ersten Ärger verdaut hat, ein schlechtes Gewissen, weil sie ja sieht, wie ihre Mutter auch noch am Wochenende in der Fabrik Schicht arbeitet, um das Geld für ihren Englisch-Kurs zusammenzubekommen. Und ich sitze in meinem Zimmer und wundere mich. So wie ich mich hier in Russland immer wieder wundere. Vor meiner Abreise nach Irkutsk hatten mich Freundinnen in Moskau gefragt, ob das denn nicht gefährlich sei, meinen Freund sechs Wochen alleine in Moskau zu lassen. «Hier gibt es so viel hübsche Mädchen…» An die wahnsinnig gut aussehenden Russen in Irkutsk, die ich kennenlernen könnte, denkt natürlich keine.