Heizperiode

Moskau, den 8. November 2002

Bislang kannte ich meine Nachbarn nur vom Sehen. Grüssen tut man sich in Moskaus Treppenhäusern nicht, man läuft wortlos aneinander vorbei. Das höchste der Gefühle ist allenfalls ein Nicken. Aber auch das bekommt man frühestens nach dem hundertsten Treffen im Treppenhaus. Mir und meinen Nachbarn fehlten eben die Gemeinsamkeiten. Das hat sich in den vergangenen zwei Wochen geändert. Treffe ich jetzt Nachbarn, bleiben sie stehen und grüssen freundlich. Seit die Heizperiode begonnen hat, haben wir nämlich gemeinsame Probleme: Kaputte Röhren. In den letzten zwei Wochen sind in unserem alten Haus schon in vier von zehn Wohnungen Heizungsröhren geplatzt. Vor einer Woche auch bei mir. Der Nachbar von unten klingelte: «Bei Ihnen läuft die Badewanne über!». Der Mann war völlig fertig. Kein Wunder. Er hatte eben die Wohnung renoviert. Ich liess in herein. Er tastete die Wände ab. Alles trocken. Da klingelte es noch einmal an meiner Tür. Dieses Mal war es die flippige Nachbarin, die auf dem selben Stock wohnt. Auf ihrer Seite der Wand war auch alles nass. Nach fünf Minuten später klingelte es wieder. Jemand aus dem Haus hatte den Handwerker-Notfalldienst angerufen, weil Wasser in den Keller floss. Drei Handwerker in Blaumännern verlangten, rein gelassen zu werden. Die wildesten Theorien, woher das Wasser kommen könnten, wurden diskutiert. Die erfahrenen Handwerker, die für den Unterhalt der fast durchwegs mindestens siebzig Jahre alten Gebäude in unserem Quartier zuständig sind, entdeckten das Problem schnell. In der Wand zwischen mir und meiner Nachbarin ist ein sechzig Zentimeter breiter Hohlraum. Genau dort drin war das Verbindungsrohr zwischen meiner und ihrer Heizung durchgerostet und geborsten. Das Rohr musste erneuert werden. Dazu musste erst einmal ein Loch in die Wand gehauen werden. Während der jüngste der drei Handwerker mit einem riesen Hammer und einem Meissel die Wand aufspitzte, klingelte es noch einmal. Der Freund meiner Nachbarin kam, lief total gestresst in der Wohnung rum und sagte dauernd «ich muss unbedingt nach Korea». Ob er nach Korea gefahren ist, weiss ich nicht. Er verschwand jedenfalls mit allen andern. Nach zwei Stunden kamen die drei Handwerker wieder, mit einem rostigen Ersatzrohr, das sie durch die Wand in die Wohnung meiner Nachbarin schoben. Dort hatte einer der Handwerker auch noch ein riesen Loch in die Wand gehauen. Auf die Frage, ob es Sinn mache, ein rostiges Rohr einzusetzen, meinte der eine Handwerker lachend «mal es doch einfach an, wenn es dich stört!». Seit diesem Vorfall habe ich eine Menge neue Bekannte. Jedes Mal, wenn ich meine Nachbarin von nebenan sehe, grüsst sie mich und fragt, ob Sonja schon bei mir gewesen sei. Sonja gehört auch zur Handwerkertruppe und ist zuständig für die Reparatur des Loches in der Wand. Sonja war noch nicht bei mir, dafür schon bei den Nachbarn über mir. Dabei ist bei denen die Röhre nach uns geplatzt. «Die Ausländerin kann warten», soll sie gesagt haben. Das wiederum weiss ich von noch einer andern Nachbarin.