Mode

Moskau, den 20. December 2002

Stellt euch mal vor: Man hat die Möglichkeit, gut auszusehen und tut es nicht. Mir passiert das immer wieder. Ich könnte ohne viel Aufwand dafür sorgen, dass ich weniger schäbig aussehe, als ich es in den letzten Wochen tue. Dazu bräuchte es zur Zeit in Moskau nicht viel, habe ich mir sagen lassen: Ein Rock der Kürzestklasse, ein bauchfreies Oberteil und vor allem: Netzstrümpfe. Dummerweise ist in Moskau der Winter ausgebrochen. Der Wind pfeift fies kalt um die Hausecken, die Eiszapfen hängen von den Dachrinnen und das Thermometer hat es schon bis 25 Grad unter Null geschafft. Schönheit muss leiden, das wurde mir lange genug eingetrichtert. Zum Leiden bin ich dummerweise nicht geboren, deshalb wird das mit der Schönheit wohl nie etwas werden. Kommt dazu, dass Schönheit in Russland eng an den Mode-Trends gebunden ist: Schön ist, was trendig ist. Dass der Trend zu Netzstrümpfen erst spät im Jahr propagiert wurde, ist natürlich ein gigantisches Pech für die modebewussten russischen Frauen. Die müssen jetzt nämlich mit Netzstrümpfen vor den Clubs anstehen. Gegen solche Tatsachen kann frau nicht viel machen, vor allem nicht in Moskau. Trendig zu sein hat hier nämlich nicht viel mit Spiel oder Lust zu tun, sondern ist ein absolutes Muss, wenn man dazugehören will. Zu Sowjetzeiten trug man, was es zu kaufen gab. Der Aufholbedarf ist deshalb riesig, dem Trend wird ohne Rücksicht auf Verluste gefolgt. Ganz egal ob er der Saison angepasst ist oder nicht. Ihn einfach auf nächsten Frühling zu verschieben, steht ausser Frage, es gibt immer Frauen, die trotzdem Netzstrümpfe anziehen und da stände man im Frühling da wie die alte Fasnacht! Die Nieren auftauen kann man ja am nächsten Morgen wieder. Ich mache hier mit meinem schlabberig-zotteligen uralten aber wohlig-weich-warmen grauen Faserpelz, der mir bis fast an die Knie geht, natürlich keine Falle. Ziehe ich meine Hasenfellmütze mit den herunterklappbaren Ohrenschützen an, mache ich mich endgültig zur Deppin. Aber wenigstens friere ich nicht. Natürlich unterwerfe auch ich mich den Trends, ausser es handelt sich um bauchfreie T-Shirts, kurze Röcke, spitze Schuhe und Netzstrümpfe. Leider bin ich mit meiner Unterwerfung aber immer zu spät, weil ich Kleider nur dann trage, wenn sie mir gefallen. Ich finde Hosen mit weiten Stössen erst dann schön, wenn sie längst wieder out sind. Ich habe, das ist mir kürzlich schmerzlich bewusst geworden, das wesentliche nicht kapiert: Trends müssen nicht gefallen. Mit meiner Rolle als Mensch fernab jeglicher Modeströmungen habe ich mich längst abgefunden. Mal abgesehen davon, dass ich nicht alleine bin, denn viele Russinnen sind untrendig, weil sie es sich schlicht nicht leisten können, jede Saison den neusten Fummel zu kaufen. Ich habe hier auch ein paar Anhängerinnen der warme-Schlabber-Pulli-Fraktion gefunden. Hin und wieder kommt mir dank meiner Kleidung aber doch noch eine wichtige Rolle zu: Als exotisches Accessoire sozusagen, das mit Verständnis heischendem Unterton so vorgestellt wird: «Das ist Alex, sie kommt aus der Schweiz».